Sewardessen

Wohl keine Wüstung in der Nähe Holtheims ist trotz genauer Lokalisierbarkeit und recht guter Urkundenlage so vielen Deutungsversuchen unterworfen worden, wie Sewardessen.

Im westlichen Teil der Holtheimer Gemarkung, auf halbem Wege wischen Holtheim und Amerungen, befinden sich nördlich des Sassenberges am linken Ufer des Holtheimer Baches die sogenannten Kirchenplätze. Es handelt sich um eine etwa 30 Morgen große Fläche, die früher mit Bäumen bestanden war und gegen Ende des 19. Jahrhunderts schrittweise kultiviert wurde. Wilhelm Wöhlke (1) deutet die Namensgebung als ehemals der Kirche gehöriges Land, andere (2) vermuten hier aufgrund älterer Ausgrabungen den Standort der ehemaligen Amerunger Kirche und führen den Namen „Kirchenplätze“ darauf zurück. Eine weitere Deutung schein m. E. nach wahrscheinlicher zu sein. Bei Aufnahme des preußischen Urkatasters ermittelten die Landmesser auch die Flurnamen und versuchten anschließend, diese Namen möglichst hochdeutsch in die Karten zu übernehmen. Unzählige falsche Flurnamen prägen somit bis heute die Katasterkarten, zumal die häufig nicht aus Westfalen stammenden Landmesser den Dialekt  der Einheimischen nicht verstanden und es somit zwangläufig zu Fehlübersetzungen kommen mußte. Der eigentliche Name des Geländes ist „Kreikenplässen“, Kreiken aber sind eine Pflaumenart, der Name deutet also garnicht auf eine Kirche hin. Wenden wir uns dem archäologischen Befund zu: In dem unteren Teil der in Süd – Nord Richtung verlaufenden Grabensenke befindet sich ein Turmhügel (sog. Motte) von 22 x 12 Metern Durchmesser und 2 bis 3, stellenweise auch 4 Meter Höhe. Der Hügel ist heute mit Eichen bestanden. Östlich des Grabens finden sich in der Wiese die Spuren eines ehemaligen Hohlweges aus der Zeit vor der Separation sowie mehrere obertägig erkennbare Wohnpodien. Auf dem Turmhügel findet sich wenig Keramik aus der Zeit vor dem 10. Jahrhundert, diese Anlage kann somit älter als der Rest der Siedelung sein. Im östlichen Bereich der westlich an den Graben angrenzenden Ackerfläche finden sich viele Scherben mittelalterliche Keramik aus dem 12. und der ersten Hälfte des 13. Jahrhunderts. Es handelt sich um teilweise sehr fein bearbeitete Ware. Einige Stücke konnten als Neuenheerser Keramik gedeutet werden. Unterhalb des Turmhügels ist der ganzjährig wasserführende Graben durch einen Querdamm verbaut, der allgemein als kleiner Teich zu deuten sein dürfte. Im Jahre 1870 wurden bei Kultivierungsarbeiten Gebäudereste gefunden. Dazu schreibt die Zeitschrift für vaterl. Geschichte und Altertumskunde (3):  „25 Schritt von diesem Teiche entfernt, in der Richtung von Osten nach Westen, haben sich die Grundmauern einer alten Kirche gefunden. Der Platz war vorher mit Büschen und Dornen bewachsen und hob sich im Aeußern als eine mäßige Erhöhung von dem umliegenden Terrain ab. Ein Einwohner von Holtheim pachtete die Parcelle, fing an sie urbar zu machen, sie zu ebnen, die Steine auszubrechen und wegzuschaffen, womit er 1870 fertig war. […] Es fanden sich die Umfassungsmauern der Kirche überall noch im Fundamente vor, auch an der nördlichen Langseite war die Stelle der Eingangsthür genau zu sehen. Die Kirche war geostet, hatte eine Länge von 72 Fuß (etwa 22,3 m) und eine Breite von 27 Fuß (etwa 8,4 m). Der Altar war noch in einer Höhe von 3 – 4 Fuß vorhanden und vor demselben ein platter Sandstein von wenigstens 5 Fuß (etwa 1,5 m) Quadrat. Man stieß im Innern beim Nachgraben auf keinen Steinbelag, sondern auf einen festen Boden von blauem Thon, wie er sonst in der Gegend nicht vorkommt. Es fanden sich im Innern bei der Thüröffnung ein langer Schlüssel und anderes Eisengerät, und merkwürdigerweise 14 Hufeisen und ein großer Degen. Auch zeigten sich Brandspuren. Am Thurmende fanden sich Stücke von Backsteinen, sonst waren nur Sandsteine verwendet. Außerhalb der Kirche hat man Scherben von Thonwaaren gefunden, auch Spuren von Kalköfen, aber bis jetzt keine menschlichen Gebeine. Um die Größe und Lage der Kirche festzustellen, hat Hr. Vikar Hansmeyer von Holtheim jüngst genaue Nachgrabungen anstellen lassen. […] Denkbar wäre es, daß es die Pfarrkirche des in der Nähe gelegenen und später ausgegangenen Amerungen gewesen […] “ Soweit der Bericht von 1883. Leider sind die von Vikar Hansmeyer gemachten Funde verschwunden und auch sonst keinerlei Zeugnisse diesbezüglich aus seiner Feder erhalten geblieben. Die Deutung der Fundamente als Kirche scheint aber sehr zweifelhaft: Der Bau ist für eine damalige Kirche sehr groß, ein solches Gotteshaus müßte zumindest Pfarrkirche gewesen sein und damit auch vermehrt in Urkunden auftauchen. Dies ist nicht der Fall. Die im Inneren des Gebäudes gefundenen Gegenstände lassen eher auf eine landwirtschaftliche Nutzung des Gebäudes schließen. Da in Sewardessen zudem ein Freigericht bestand, wäre die Kombination von größerem Gehöft und der Turmburg (Motte) durchaus logisch. Würde es sich um eine Kirche handeln, hätte man fast zwangsläufig menschliche Gebeine finden müssen, da früher zumeist um die Kirche herum beerdigt wurde. Wie derselbe Bericht weiter ausführt, wurden aber bei der Amerunger Kapelle wiederholt Gebeine gefunden. Zudem ist die genaue Lage Amerungens genau feststellbar, warum sollten die Bürger ihr Gotteshaus etwa einen Kilometer von der Siedlung entfernt errichtet haben? Der Erbauer der heutigen Annenkapelle, Fürstbischof Ferdinand v. Fürstenberg, war in den historischen Wissenschaften sehr bewandert und ist als sehr genauer Historiker bekannt. Daß er sich bei Neuerrichtung der Amerunger Kapelle nicht am genauen alten Kirchplatz orientiert haben könnte, ist unwahrscheinlich, zumal 1669 sicherlich noch Reste des verfallenen Amerunger Gotteshauses sichtbar waren. Sowohl Vikar Hansmeyer als auch nachfolgende Heimatforscher sind hier augenscheinlich der Versuchung erlegen, den Namen „Kirchenplätze“ vorschnell zu deuten, wobei eine vordergründige Logik ja auch nicht zu leugnen ist.

Es bleibt uns nach Betrachtung aller bekannten Fakten zur Zeit nur eine logische Erklärung: Wir haben es bei der Siedlung mit dem Hofe Sewardessen zu tun, der in den Urkunden mehrfach auftaucht.  Dazu schreibt Wilhelm Wöhlke: „1487 wird in einem Waldecker Lehnsrevers für Heidenreich v. Calenberg eine Feldmark Siwerheym zwischen Amerungen und Holtheim genannt (5). Es handelt sich hierbei um die Flur der Siedlung Sewardessen, die 1011 mit der Grafschaft des Haold an Bischof Meinwerk von Paderborn kam (6). Diese Schenkung wird 1016 bestätigt (7) und  1021 wiederholt (8), wobei aber nun der Name Soratfeld an die Stelle von Sewardessen tritt. Unabhängig von dieser Schenkung wird Sewardessen noch zweimal zu Lebzeiten Meinwerks überliefert, 1024 (9) und 1036 bei der Aufzählung der zu Sutheim gehörenden Vorwerke (10). Danach verschwindet der Name vollkommen, um erst in dem Revers von 1487 noch einmal aufzutauchen. In diesem Revers geht es um einen Hof in Holtheim „bouen Amerunge ane der feltmarcke tho Siwerheym“, also nicht einen Hof Siwerheym oder einen Hof in Siwerheym! Schon die Erneuerung der Belehnung von 1487 im Jahre 1517 und alle späteren Wiederholungen verwandeln den Namen endgültig zu Sudheim (11). Die Schreibung Sewardessens wird bis 1487 ständig verändert. Von Seuurdeshusun bzw. Siwardeshus (1011) wird sie über Sewardeshuson (1016) und Syardissen bzw. Siwardassan (1036) zu Siwerheym (12).

Soweit Prof. Dr. Wöhlke. Die historischen Fakten sind damit weitgehend klar. Es bleibt anzumerken, daß bei der Erwähnung 1016 ausdrücklich vom Freistuhl Sewardessen die Rede ist, der Hof also als Gerichtstätte eine nicht geringe Bedeutung hatte. Ab 1179 taucht aber der Freistuhl im nahen Amerungen auf, so daß die Siedlung Sewardessen allein schon durch diese Verlegung allmählich an Bedeutung verloren haben dürfte. Ältere Autoren vermuten den mit Eichen bestandenen Turmhügel als den Gerichtsplatz, was sicherlich eine durchaus malerische Komponente hat und auch nicht der Logik entbehrt. Man sollte aber bedenken, daß die heutigen Eichen auf dem Hügel aus dem 19. Jahrhundert stammen und die Anlage bis zu jener Zeit auch durch den damals noch nicht gerodeten Waldbestand auch nicht so hervorstechend war, wie heute. Johannes Knaup (13) nennt die Wüstung in seiner Arbeit „Külte“ und bezieht sich dabei auf den sog. „Külter Patt“, der von Kerkthorp (Kettrupp) bei Lichtenau bis gegen Amerungen ging. Die Einwohner wären, wie er schreibt, Waldecker gewesen. Da der Hof, wie wir aus den Urkunden wissen, Waldecker Besitz war, ist zumindest die letztere Annahme nicht unrichtig. Da die genannte Arbeit leider keine genauen Quellen angibt, kann die Vermutung, die Siedlung habe Külte geheißen, nicht näher abgesichert werden. Die bislang bekannten Urkunden bieten keinerlei Anhalt dafür. Die von mehreren Autoren geäußerte Vermutung, Sewardessen habe sich zwischen Kleinenberg und Holtheim befunden, ist weder durch Urkunden, noch durch Geländebeweise zu stützen, ja sie wird geradezu durch den Lehnsrevers von 1487 mit seiner genauen Lagebeschreibung Sewardessens widerlegt.

Literatur:

1) Wöhlke, Wilhelm: Die Kulturlandschaft des Hardehausener und Dalheimer Waldes im Mittelalter. Münster 1957, S. 8 – 9.
2) Zeitschrift für vaterländische Geschichte und Altertumskunde. 41. Band, II. Abteilung, Seite 206 – 207. Münster: Regensberg 1883.
3) Wie 2
4) Wie 1
5) Staatsarchiv Marburg, Fm. Waldeck, OU 5955.
6) Westf. Urkundenbuch, Cod. LXXXII; Seibertz 21; VM als Siwardeshus.
7) Westf. Urkundenbuch, Cod. XCI.
8) Wilmanns-Philippi II, Nr. 158.
9) Westf. Urkundenbuch I, Cod. VM
10) Westf. Urkundenbuch I, Cod. CXXVII
11) StA Marburg, Fm. Waldeck, OU 5959, 5960, 5963, 5964.
12) WUB I, Cod LXXXII (1011), VM (1011); WUB I, Cod. XCI (1016); VM (1024); WUB I, Cod. CXXVII (1036), VM (1036)
13) Knaup, Johannes: Wie erarbeite ich die Dorfgeschichte Holtheims…Arbeit für die erste Lehrerprüfung, Warburg 1947, S. 22.

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